Folge 16: Anschläge 1931–1934
Anschläge 1931–1934 (GFA 5/69)
Erschienen im November 2019
Das Lieblingsbuch von Iris Staubesand
Iris Staubesand war im Juli 2019 Scholar in Residence in der Eisenbibliothek. Als Soziologin und Enkelin eines Werkzeugdrehers, der von 1933 bis 1971 im Dienste von GF stand, interessierte sie insbesondere die soziale Verantwortung von GF gegenüber der Arbeiterschaft und deren Familien in den 1930er- und 1940er-Jahren. Ihre Lieblingsakte ist eine Sammlung von Fabrikanschlägen, also von internen Mitteilungen für die Arbeiterschaft – ein Sammelsurium an Informationen, das den Alltag der Arbeiter, ihrer Frauen und Kinder, lebendig werden lässt.
Iris Staubesand
… ist leidenschaftliche Fragestellerin und Antwortsucherin. Das Spektrum ihrer Fragen ist unbeschränkt. Dabei geht sie mit journalistischen und wissenschaftlichen Werkzeugen vor, über die sie dank Ausbildungen in Journalismus (Universität Fribourg), Nachhaltiger Entwicklung und Soziologie (Universität Bern), v.a. aber durch viel Praxis, verfügt.
Als Journalistin schreibt sie gerne Reportagen oder porträtiert Menschen, die eher am Rande der Gesellschaft stehen. Sie will unterhalten, aber auch aufklären. Sie war für verschiedene Zeitungen tätig und insbesondere auch für die Kommunikation von Verwaltungen, u.a. als Öffentlichkeitsverantwortliche eines Zentrums für Nachhaltige Entwicklung der Universität Bern.
Zu Georg Fischer kam sie durch die persönliche Forschung nach ihrem Grossvater, der 1933 bis 1971 dort arbeitete. Eine Spur, die ihr eine ganz neue Welt eröffnete.
Iris Staubesand ist als freie Journalistin tätig, malt und wohnt in Bern.
Das Buch, in dem ich gerne mitspielen würde …
Lukas Hartmann: Der Konvoi. Zürich, Diogenes Verlag 2013
Das Buch, von dem ich gerne eine Fortsetzung lesen würde …
Leonardo Padura: Das Havanna-Quartett. Zürich, Unionsverlag 2008
Das Buch, das momentan auf meinem Nachttisch liegt …
Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten. München, Luchterhand Literaturverlag 2019
Im Gegensatz zur Eisenbibliothek findet man im Georg Fischer Konzernarchiv naturgemäss eher Dokumente und Dossiers (Akten) als Bücher. Diese Originale haben für mich eine andere, tiefere Qualität als ein Buch. Denn sie waren ja damals unmittelbar dabei: Im Büro, wo die Sekretärin sie einspannte und tippte, auf dem Pult des Chefs, der sie unterzeichnete. Vor achtzig Jahren hielt vielleicht Herr Bührer dieses Papier in Händen oder Fräulein Bohnenblust. Und jetzt ich! Das ist doch verrückt. Papier ist eben – richtig aufbewahrt wie hier – tatsächlich sehr geduldig.
Ein Lieblingsbuch aus dem Konzernarchiv kann ich trotzdem gerne nennen. Eines, das es garantiert nur einmal gibt. Es ist rot gebunden, etwas höher und breiter als A4 und hat ein schönes alphabetisches Register, das allerdings gar nicht gebraucht wurde. Denn die Informationen, die von April 1931 bis Dezember 1934 am Fabrikanschlag hingen, wurden einfach chronologisch darin eingeklebt. Dies wurde sehr sorgfältig gemacht und ich wüsste gerne, welcher Leim dafür verwendet wurde, denn er hält bis heute tadellos.
In der ersten Anzeige vom 27. April 1931 informiert die Direktion darüber, dass die Arbeit am folgenden 1. Mai ganztags eingestellt wird. Nur zwei Sätze. Der Kontext war den Adressaten ja klar. Im September 1932, dass «mit Zustimmung der Arbeiterkommission als ausserordentliche Krisenmassnahme mit vorläufiger Wirkung bis im Frühjahr 1933» alle Werke samstags geschlossen blieben. Die Weltwirtschaftskrise lässt grüssen.
Daneben: Konzerthinweise, «bei günstiger Witterung im Garten, sonst im Saal» des Logierhauses Birch. Die Senioren-Abteilung des Handharmonika-Clubs Munot spielte zwölf Stücke, vom «Bödeli-Ländler» bis zum Marsch «Freiwillige vor». Der Eintritt betrug 80 Rappen. Es wurden «Fahrräder Schweizer-Fabrikat» aus einer Liquidation angeboten, die bei Interesse beim Büro-Portier besichtigt werden konnten. Die werkseigene Bibliothek informierte über ihre Wiedereröffnung nach den Sommerferien und betonte, dass «die Auswahl an Lesestoffen durch Zuzug von Büchern aus der Volksbibliothek vermehrt» werden konnte.
Im Herbst die Anzeige, dass morgens bis 8 Uhr «zweckmässig zugerichtetes Obst» in beschrifteten Körben oder Säcken zum Hintereingang von Werk III gebracht und abends ab fünf Uhr gedörrt und kostenfrei gleichenorts wieder abgeholt werden kann. Die Abwärme der Giessereiöfen so wirtschaftlich und sozial zu nutzen, würde heute mit einem Nachhaltigkeitspreis ausgezeichnet.
Überhaupt war im Herbst einiges los. Man konnte Kartoffeln bestellen, die zum billigsten Tagespreis ins Haus geführt wurden. Oder Blumenzwiebeln vom Gartenbau-Verein für den nächsten Frühling. Gattinnen wurden eingeladen, Heimarbeiten für die Weihnachtsbescherung zu übernehmen. Es sollten sich aber bitte nur jene melden, die wirklich «gut nähen und stricken können».
Viele der Angaben konnte ich im Gespräch mit meinem Onkel (Jg. 1940) verifizieren und verfeinern. Er erinnert sich gut, wie er als Kind jeweils am Donnerstagnachmittag die Bibliothek im Mühlental besuchte, v.a. wegen der Winnetou-Bände. Diese «Öffnungszeit für Angehörige» galt bereits 1934, während Angestellte und Arbeiter zu anderen Zeiten erwartet wurden. Oder wie er meine Grossmutter begleitete, als sie in einem Depot im Mühlental leicht schadhafte emaillierte Gusspfannen zum Sonderpreis kaufen konnten. Bei einem Herrn mit «flaschenbodendicken Brillengläsern». Auch dieses Angebot für Angehörige begegnet mir in den Inseraten mehrmals.
Das Dossier GFA 5/69 gab mir die Möglichkeit, in die Atmosphäre einzutauchen, die damals allgemein und in den Stahlwerken im Besonderen herrschte. Diese Zeit interessierte mich ja besonders, weil mein Grossvater damals bei GF zu arbeiten anfing. Es war wie eine erste Skizze, die sich um die Fragen drehte: Was war damals normal? (z.B. Samstagsarbeit) Was hat die Menschen beschäftigt? (viele Ernährungsfragen rundum Wintervorrat und Selbstversorgung) Wie hat sich GF um ihre Arbeiterschaft und deren Familien gekümmert? Wie hat das Unternehmen deren Alltag geprägt? (sehr stark) Durch viele weitere Dokumente aus dem GF Konzernarchiv, Exkursionen und Gespräche wurde aus dieser Skizze mit der Zeit ein Bild mit Tiefe und in Farben.